Für viele Zahnärzte/-innen ist es eine schwere Entscheidung, sich in die Selbstständigkeit zu wagen. Die Übernahme einer eigenen Praxis oder der Einstieg in eine Berufsausübungsgemeinschaft (BAG) bringen große Veränderungen – u.a. für die eigene Rollenfindung. In der Regel ist es ja so: Als Ausbildungsassistentin oder auch danach, als angestellte Zahnärztin, integriert man sich in ein bestehendes Praxisteam und akzeptiert die Gegebenheiten – die Arbeitskultur und -atmosphäre – mit allen Vor- und Nachteilen. Den Übergang zu einer Führungsrolle in der eigenen Praxis zu meistern – das ist eine große, neue Aufgabe. Aus familiären Gründen ist es oft erstrebenswert, in eine Sozietät einzusteigen. Gerade hier ist der Rollenfindungsprozess komplex, das ganze Unternehmensgefüge muss sich komplett neu strukturieren. Dabei kann man professionelle Hilfe gut gebrauchen.
Kollegen/-innen, die sich für die Selbstständigkeit entschieden haben, treten voller Enthusiasmus und mit großem Engagement an, um in ihrer Praxis eine gesunde Unternehmenskultur zu etablieren. Meist haben sie den starken Wunsch, all das, was sie im Angestelltenverhältnis als negativ und ungesund erlebt haben, besser zu machen. Sie wollen eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe etablieren und ein angenehmes Betriebsklima
schaffen. Dabei gilt es – wichtiger denn je in Zeiten des Fachkräftemangels – die etablierten Mitarbeiter/-innen zu binden und ggf. sogar neue zu gewinnen.
Als ich vor zwei Jahren einen jungen Kollegen in meine Einzelpraxis aufnahm und sie damit zu einer Gemeinschaftspraxis wurde, konnte ich direkt aus der Nähe beobachten, was ich sonst in meiner distanzierteren Rolle als Supervisorin in anderen Praxen erlebe. Es war Chance und Herausforderung zugleich, dass mein Kollege gerade einstieg, als ich mich einer Operation unterziehen musste und für einen längeren Zeitraum nicht in der Praxis war. Chancenreich und gut für ihn: Er konnte sich in seinem Tempo in der neuen Umgebung einfinden, das Team kennenlernen, die ersten Schritte in der Selbstständigkeit „frei“ gehen, sich „als Typ“ etablieren. Diesen Freiraum hat in der Regel nicht, wer in ein bestehendes Praxiskonzept einsteigt.
Gerade der Einstieg in Sozietäten oder die Gründung einer BAG, wodurch eine Einzelpraxis zur Mehrbehandlerpraxis wird, ist nicht zu unterschätzen.
In bestehenden Praxissystemen ist es eine große Herausforderung, seinen Platz als Führungskraft zu finden und auszufüllen; und es erfordert Mut, im Gefüge einer bestehenden Struktur Prozesse der Selbstentwicklung anzustoßen. Dafür braucht es einen geschützten Rahmen und im besten Falle jemanden, mit dem man solche Prozesse professionell reflektieren kann, z. B. im Rahmen eines Führungskräfte-Coachings, idealerweise ergänzt durch eine supervisorische Begleitung des gesamten Praxisteams. So können – und hier spreche ich aus meiner Erfahrung als Supervisorin und Zahnärztin mit Führungserfahrung – Rollenübergänge gut gelingen.
In einer Praxis, die ich als Supervisorin begleitet habe, hatte die Zahnärztin Dr. S. einen Praxisanteil von einer Kollegin, Dr. L., in einer Praxisgemeinschaft erworben. Es stellte sich heraus, dass die Praxis bis dahin de facto als Gemeinschaftspraxis geführt worden war. Im Laufe der Jahre hatten sich Prozesse eingeschlichen, die eher der Rechtsform einer BAG entsprachen und dies auch „nach außen“ spiegelten, sodass sowohl die Mitarbeiter/-innen als auch die Patienten/-innen den Eindruck hatten: „Das hier ist eine gemeinschaftlich geführte Praxis.“
Die beiden Zahnärztinnen waren sich dieser Problematik unklarer Betriebsstrukturen aber nicht bewusst, als sie versuchten, die Arbeitsabläufe, das Team und das Praxisimage an ihre Bedürfnisse als neue Praxisinhaberinnen anzupassen. Durch die jahrelang eingespielten Prozesse, durch die Vermengung der Rechtsformen Praxisgemeinschaft und Gemeinschaftspraxis, den Mangel an Kommunikation und die fehlende Reflexion dessen, was die Zusammenarbeit gerade erschwert, konnten die jungen Kolleginnen ihre Führungsrollen nicht klar definieren, geschweige denn einnehmen.
Jede versuchte so gut wie möglich „ihre eigene Praxis“ voranzubringen – und beide verloren das „Big picture“, den gemeinsamen Praxiskontext, aus den Augen.
Die Mitarbeiterinnen waren dadurch praktisch führungslos. Zunächst funktionierte zwar noch die Selbstführung des Teams, weil langjährige, erfahrene, gut eingearbeitete Mitarbeiterinnen Führungsrollen übernahmen und „den Laden am Laufen“ hielten. Bald aber wurden die Folgen des Führungsvakuums offensichtlich. Es kam zu massiven Konflikten bis hin zur Auflösung von Arbeitsprozessstrukturen. Grabenkämpfe um Führungsansprüche zwischen den Inhaberinnen brachen offen aus. Eine kollegiale Zusammenarbeit war nicht mehr möglich, die beiden kommunizierten nur noch per Mail und später per Anwalt.
Mit dramatischen Folgen: Bei meinem ersten supervisorischen Klärungsgespräch in dieser Praxis hatten fünf von sechs Mitarbeiterinnen ihre Kündigung in der Tasche – und eine Abrechnungskraft hatte sich bereits verabschiedet. Die Mitarbeiterinnen hatten keinen Ausweg gesehen, eine Veränderung der Situation zum Guten nicht mehr für möglich gehalten.
Weder die Altgesellschafterin Dr. L noch die neu in die Praxisgemeinschaft eingestiegene Kollegin Dr. S hatten diesen Eklat kommen sehen. Keine der beiden hatte bemerkt, dass ihre Mitarbeiterinnen bereits auf die Störungen reagiert hatten und entschlossen waren, das sinkende Schiff zu verlassen. Beide waren zutiefst erschüttert. Sie waren sich bei Übernahme der Praxis doch so sympathisch gewesen – und im ersten Jahr der Zusammenarbeit war doch auch alles „normal“ gelaufen! Unter der Oberfläche hatte es aber schon lange gebrodelt, die alten Strukturen hielten dem Druck nicht mehr stand, bis die Situation so verfahren war, dass es zur Eskalation und zum Bruch kam. Auch Patienten/-innen hatten bereits auf die Zustände in der Praxis reagiert, da ein ungestörtes Arbeiten und Betreuen mit ihnen einfach nicht mehr möglich war.
Erst die überraschende Kündigung der Abrechnungskraft rüttelte die beiden Unternehmerinnen wach.
Die beiden entschieden sich – aus professioneller Fürsorge und mit gelebter Führungsverantwortung – für eine Teamsupervision. So zeigten sie ihren Mitarbeiterinnen, dass sie deren Sorgen und Nöte ernst nehmen und echtes Interesse daran haben, dass alle wirklich gut zusammenarbeiten können. Diese Initiative hat dazu geführt, dass ein Raum entstand, in dem die Mitarbeiterinnen ihre Anliegen geschützt offenlegen und neue Wege der Zusammenarbeit gefunden werden konnten. Unter anderem teilten die beiden Inhaberinnen das Team unter sich auf, steckten die Rahmenbedingungen der neuen Zusammenarbeit klar ab und führten neue Praxiszeiten ein.
Das Team zu begleiten, damit zu stabilisieren und der Praxis in Zeiten des Fachkräftemangels das Überleben zu ermöglichen, war eine große Beratungsaufgabe. Die andere, noch größere war, die der Eklat-Situation zugrunde liegenden Probleme ins Bewusstsein zu heben, mit den Praxisinhaberinnen zu besprechen und eine wirklich wertschätzende Führungskultur zu etablieren.
Wie ging es weiter mit Dr. L und Dr. S? Der große Veränderungsdruck führte schließlich dazu, dass die Zahnärztinnen Führungsfragen neu für sich klären mussten, um sich über ihren weiteren Berufsweg klar zu werden. Dr. S nahm die Herausforderung, ihre Führungsqualitäten professionell weiterzubilden, dankbar an. Dr. L entschied sich mit einem vollkommen neu aufgestellten Team ganz neue Wege einzuschlagen.
Heute führen beide Zahnärztinnen ihre Betriebe unabhängig voneinander.
Im Laufe der Entwicklungsprozesse hatte sich herausgestellt, dass ihre Vorstellungen von gemeinschaftlicher Praxisführung nicht zusammenpassten.
Besonders erfreulich dabei: Die Mitarbeiterinnen konnten fast alle in einer der beiden Praxen gehalten werden, die Abrechnungskraft kehrte nach einem halben Jahr Auszeit auf ihre Stelle zurück. Beide Kolleginnen haben einen enormen Selbstentwicklungsprozess durchlaufen, hätten sie sich doch vorher nicht vorstellen können, eine Praxis allein zu führen.
Für mich ist es immer wieder interessant, dass es „in der freien Wirtschaft“ selbstverständlich ist, Führungskräfte durch Coachings oder Trainings zu fördern und zu schulen. Eine Arzt- oder Zahnarztpraxis zu führen entspricht der Unternehmensführung eines mittelständischen Betriebes. Gerade wenn man sich eher auf seine Profession als Arzt- oder Ärztin. bzw. Zahnarzt/-ärztin konzentrieren möchte, kann externe Unterstützung in Management- und Führungsfragen entlastend sein.
Speziell qualifizierte Unterstützung dafür ist jedenfalls leicht zu finden.
Auch in Sozietäten, BAG oder Praxisgemeinschaften sollten wir das Thema Unternehmensführung nicht fachfremden Managern überlassen und uns als selbstständige Niedergelassene in unserem wunderbaren Berufsfeld behaupten.